Diarium

von Gerhart Hauptmann
Kloster, 16. Juli 1919

Mondnacht am Meer.
Eine vollkommene Klarheit und Stille.
Bei Wegfall aller kleinen Einzelheiten und der meisten Farben magische Schönheit der Linie und Form.
Man ist gleichsam versunken in einen glanzvollen Nachtfrieden.
Das Meer dehnt sich und glitzert in einer verlockenden Ruheseligkeit.
Stille und Glanz gewinnen mehr und mehr etwas magisch Betörendes.
Eigne Müdigkeit drängt sanft zur Ruhe.
Man möchte ins Meer hineingehen und sich willenlos wohlig ihm überlassen.
Sind es die Lichtkräfte des Mondes in der selig befriedigten Unendlichkeit der See, die einen sanft-seligen Tod vorspiegeln?
oder was sonst?
Man will den Schlaf nicht, man will das Bett nicht.
Beides erscheint hart materiell, erscheint grob, verglichen mit jenem Eingehen, jenem tiefsten Vergehen in Schönheit, zu dem man hingezogen
wird.
Nichts hält eigentlich mehr, an nichts haftet man.
Jede Fessel der Welt ist zerschmolzen.
Warum sich aufs neue anknüpfen, anbinden, anfesseln, fragt man sich.
Hier ist völliger Einklang mit der Natur.

Aus dem Tagebuch von Gerhart Hauptmann (1862-1946)